
Ich habe einen neuen Übersetzungsauftrag. Ein Sitzungsprotokoll einer internationalen Ausschusssitzung, an der Ländervertreter, zwischenstaatliche und Nicht-Regierungsorganisationen teilnahmen. Also gelten strenge Formvorschriften, Stilrichtlinien und Terminologievorgaben. Die Fachterminologie muss ich aus den entsprechenden internationalen Übereinkommen von mehreren hundert Seiten heraussuchen. Die Terminologie der dahinter stehenden internationalen Organisation liegt mir vor, denn die habe ich auch zu beachten. Ein Paragraph ist nämlich kein Paragraph oder Absatz, sondern ein Abschnitt, und eine Definition ist keine Definition, sondern eine Begriffsbestimmung. Aber das kenne ich schon, und ich mache mich ans Werk. In den nächsten Stunden wird garantiert keine Langeweile aufkommen.
Wie immer läuft es am Anfang erst einmal zäh, bis ich ins Thema gefunden habe. Bei den Überschriften im Inhaltsverzeichnis sind feststehende Formulierungen zu beachten. Wie war das noch mal? Ach ja, steht ja im Referenztext, kann ich direkt übernehmen. Prima, eine Sorge weniger. Komisch, was meinen die hiermit? Anscheinend ist das eine ganz neue Technologie. Ich kann mir nichts darunter vorstellen und lasse diese Stelle erst einmal unübersetzt. Irgendwann kommt es ja noch ausführlich. Da ist eine mir noch unbekannte Nicht-Regierungsorganisation aufgeführt. Hat die auch einen deutschen Namen? Ich klicke mich durch deren Website und stelle fest, dass sie sich nur englisch bezeichnet. Also muss der Name unübersetzt stehen bleiben.
Läuft ganz gut jetzt, es hakelt nirgendwo. Oder genauer gesagt, es hat bis hierher nicht gehakelt, aber ich habe gerade etwas übersetzt, das mir nicht gefällt. Wie also sage ich dasselbe in anderen Worten? Ich brauche einen eleganten Ausdruck, der korrekt ist, aber Spielraum lässt für die Bilder, die im Kopf des Lesers entstehen. Ich markiere mir die Stelle und lasse sie erst einmal so stehen. Darüber muss ich noch nachdenken, und meine Geistesblitze kommen erfahrungsgemäß immer erst kurz vor dem Abgabetermin...
Hm, und wie sage ich hier dasselbe in anderen Worten? Dem Stil angepasst? Ist ja ein
Protokoll und kein Kaffeekränzchen, also muss alles schön substantivisch ausgedrückt werden. Im Deutschen wird die Maschine ja nicht von der Konsole aus gesteuert, sondern die Maschinensteuerung erfolgt mittels einer Konsole.
Jetzt kommt die Stelle mit der neuen Technologie. Die kann ich mir immer noch nicht so genau vorstellen. Also suche ich erst einmal in den Übereinkommen, finde aber nichts. Dann befrage ich Tante Guhgel. Die hat zwar zweieinhalb Millionen Vorschläge, aber keiner davon passt auf das, was ich suche. Also muss nun eine schöne Übersetzung her, die so zutreffend wie möglich und gleichzeitig so formuliert ist, dass ich mich nicht festlege und Spielraum für Auslegungen bleibt. Nicht so ganz einfach. Kenne ich aber auch schon, weil das häufiger vorkommt.
Geschafft, ich bin durch. Jetzt kommen die Kontrollläufe: Terminologie prüfen, Rechtschreibung prüfen, Stilvorgaben beachtet? Namen und Zahlenformate korrekt geschrieben? Nichts ausgelassen oder dazu gedichtet? Alles richtig verstanden und entsprechend übersetzt? Und tatsächlich habe ich jetzt, während der Korrekturen, noch einen echten Geistesblitz für eine elegante Lösung der Fragen, die sich aufgetan hatten.
Puh, die Übersetzung ist gerade noch innerhalb der Abgabefrist fertig geworden. Aber ich finde, sie ist richtig gut geworden, und schicke sie mit einem Gefühl tiefer innerer Zufriedenheit an meinen Kunden ab. Der kann sie nun auf Herz und Nieren prüfen – ich stehe voll und ganz dahinter.